seniorweb.ch, 29. Juli 2023

 

Freilicht: Friede, Freude oder bloss Heimat XXL

 

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Sommer, das ist baden, grillen – und Freilichttheater. Für die einen sind dies unvergessliche Abende, für die andern ist es bloss Nachtruhestörung.

 

Unsere sieben Fragen gehen an Herrn Lobesam*. Er ist begeistert. Und an Frau Nörgeli*. Sie ist muff.

 

1. Die Stimmung: Herr Lobesam, Frau Nörgeli, schmelzen Sie vor der Bühne dahin oder ist es bloss viel Lärm und sonst nichts?

Herr Lobesam. Die Sonne geht unter, am Horizont leuchten die Berge, die Kinder spielen Fangis auf der Bühne. Das ist erdenschön. Jetzt hört man die Glocken: jene vom Kirchturm und jene von den nahen Kühen. Da überfluten uns die Seelentrost-Hormone. Alles ist gut. Alles wird gut.

Frau Nörgeli. Der Düsenjet dröhnt übers Gelände. Macht nichts, man versteht vom Text ja eh nichts. Bauer Rüedisühli bringt die Gülle aus. Hä nu. Das schwitzende Publikum riecht auch streng. Zwei Autoposer rasen um die Wette. Schon gut. Da verspricht mehr Spannung als die Handlung

 

2. Die Stücke: Hören wir zeitgemässe Mundartdialoge oder wieder einmal mehr Gotthelf for ever?

Herr Lobesam. Wo gibt es das sonst noch? Dialektstücke. Nur noch draussen im Sommer hört man träfe Sprüche und markige Mundart. Beim «Dällebach Kari» auf dem Thunersee etwa oder beim «Wyberhaage» mit Beat Schlatter auf dem Ballenberg. Das ist zwar Chuchichästli-Wält, aber wir lieben sie.

Frau Nörgeli. Die Gotthelf-Welle ist abgeflaut. Früher schwappte sie mit vielen Stücken über die Freilichtbühnen. «Gotthelf läuft immer,» wussten die Theater. Zurzeit sind die Stückelisten diverser. Immerhin: «Ds alte Wöschhuus»oder «D`Chräje-Wally» lassen Heimatstil im XXL-Format erahnen. Die beiden Titel haben wir behutsam anonymisiert.

 

3. Die Inszenierung: Theater mit richtigen Kühen und Geissen. Ist das eindrücklich und lebensnah oder ergeben Kuhfladen allein noch keine gute Produktion?

Herr Lobesam. Freilichtheater ist Spektakel ohne Grenzen. Dazu gehören Tiere. Aber auch die Landschaft spielt mit und hat oft die Hauptrolle. Der Ballenberg und die Tellspiele in Interlaken zeigen es uns: Die Umgebung wirkt einprägsamer als die besten Kulissen im Theatersaal.
Frau Nörgeli. Weil die Akustik meist schlecht ist, sind Stimmbänder-Athletinnen und Zwerchfell-Schwerarbeiter gefragt. Zwischentöne gehen da halt verloren. Hand aufs Herz: Glaubt denn jemand den zwei innig Liebenden, wenn sie ihre Herzensangelegenheiten ins Publikum schreien müssen?

 

Das Sommertheater Winterthur hatte 2022 seine letzte Saison. Die Leitung trat nach 50 Jahren zurück und konnte keinen Nachfolger finden. Die Profi-Bühne spielte Boulevard.

 

4. Das Ensemble: Erleben wir glänzende Naturtalente oder sind viele Auftritte der Laien nichts als peinlich?

Herr Lobesam. Bei den meisten Freilichttheatern stehen Amateure auf der Bühne. Da hats auch mal bloss mittelmässig Begabte darunter. Die schlaue Regisseurin wird diese nicht mit wichtigen Rollen quälen. Doch beim Sommertheater begegnet man erstaunlich talentierten Darstellerinnen und Darstellern.
Frau Nörgeli. Wenn das Auto nicht will, hole ich ja auch nicht die nette Nachbarin, sondern lasse den Experten ran. Schulung und Ausbildung sind nötig. Nur beim Freilufttheater gilt das nicht. Da misshandeln Laien Dialoge und wissen nicht, wo sie hinstehen sollen. Theaterspielen ist ein schönes Hobby. Aber muss da auch Publikum dabeisein?

 

5. Finanzen. Funktionieren die Bühnen dank Freiwilligenarbeit und Idealismus fern vom Kommerz oder sind sie längst ein Geschäft geworden.

Herr Lobesam. Freilichttheater besteht aus Freiwilligenarbeit. Hier wird unentgeltlich geprobt, gespielt, geschreinert, gebaut, montiert, ausgeleuchtet, eingerichtet, gemalt und genäht. Dies bedeutet, dass das Publikum von Gratisarbeit profitiert. Pointiert: Nur die Selbstausbeutung der Beteiligten ermöglicht die Produktionen.
Frau Nörgeli. Der Kommerz hat längst auch die Freilichthteater erreicht. Zum Beispiel durch Merchandising mit Dächlikappen‚ CDs, Gotthelf-Currywurst und Erdbeer-Mareili-Chutney. Paradebeispiel sind die Thunerseespiele. Bei solch hohen Investitionen muss die Kasse stimmen.

 

6. Das Wetter: Wehen laue Lüftchen oder versinkt alles in Schlamm und Dreck?

Herr Lobesam. Man darfs eigentlich nur hinter vorgehaltener Hand sagen: Die Klimaerwärmung bringt uns Serien warmer Sommerabende. Was gibts Schöneres, als in leichten Kleidern die Dämmerung zu geniessen. Wenn dann das Gewitter mit Blitz und Donner knapp vorbeizieht ist das Theater pur.
Frau Nörgeli. Es regnet nicht. Noch nicht. Aber es wird. Nach der Pause. So können die Veranstalter die Vorstellung als stattgefunden erklären. Nun müssen sie weder zurückzahlen noch verschieben. Trotz Erderwärmung ist das Schweizer Mittelland fürs Freilichttheater ungeeignet. Entweder regnet es, oder es ist zu kalt.

 

7. Applaus: Spendet das Publikum verdienten Jubel oder klatschen Ahnungslose für nichts und wieder nichts?

Herr Lobesam. Kein anderes Publikum als die Besucher von Freiluftstücken spendet so viel Beifall. Szenenapplaus erhalten träfe Sprüche, gelungene Effekte, selbst die Tiere bekommen tönende Streicheleinheiten. Und am Ende gibts stehenden Applaus für alle – selbst für jene am Büffet.
Frau Nörgeli. Wenn alle alles beklatschen ist der Beifall nichts wert. Beim Amateurtheater applaudiert man halt auch dem Götti auf der Bühne, der Nachbarin oder dem Arbeitskollegen. Unsäglich sind die üblichen Standing Ovations: Der Gruppendruck schaffts, dass das gesamte Publikum auch kärgliche Leistungen in den Himmel lobt.

Wie urteilen Sie? Rühmen Sie wie Herr Lobsam oder kritisieren Sie wie Frau Nörgeli? Unsere Leserschaft und wir freuen uns, wenn uns Ihre Meinung über unsere Kommentarspalte mitteilen.
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* Seniorweb-Erfahrungen haben den Verfasser gelehrt, folgendes anzubringen: Weder Herr Lobesam noch Frau Nörgeli sind reale Personen. Beide Figuren sind