Berner Zeitung, 4. Oktober 2016

Die Gedanken sind frei. Leider

Jetzt schau mal diese armen Kerle, diese bedauernswerten Opfer der bös-bösen Gesellschaft. Wie schön, dass die Junkies hier ihr Spritzchen und ihren Stoff bekommen.» So wandte ich mich an die Bekannte, als wir bei der Schütz am Fixerstübli vorbeifuhren. So sprach ich. Und das dachte ich: «He, Giele, läuft nicht wie beduselte Zombies vor mein Auto, pinkelt nicht an jede Strassenecke. Reisst euch am Riemen und tut endlich was.» Zwischen reden und denken liegen Welten, Galaxien. He ja, die Bekannte soll hören, was für ein mitfühlender Mensch da neben ihr sitzt.


Später dann im Zug: «Wie süss doch die Kleinen im Wagen herumspringen, wie härzig sie über die Sitze klettern, wie unbeschwert sie einander verprügeln.» Das sagte ich zum Kollegen. He ja, er soll spüren, was für ein kinderliebender Opapa mit ihm reist. Und so lief der Gedankenmonolog im Kopfkino ab: «Saugofen, vermaledeite, hört auf zu brüllen, zu streiten und zu nerven. Schade, dass sich die Fenster nicht öffnen lassen, sonst könntet ihr samt euren Eltern fliegen lernen.»


Das Reden haben wir im Griff. Nicht immer, nicht alle. Aber die meisten meistens. Das Denken hingegen geht eigene Wege und will sich nichts vorschreiben lassen. So war es auch, als ich mit einer Expertin letztes Jahr in der Berner Kunsthalle war. «Die Staubsauger in dieser Installation... ähem... ein Symbol für den Zugriff der Technik auf... äh... unseren Makrokosmos», stotterte ich und versuchte das Gestammel in den Sachverständigen-Modus zu hieven. He ja, die Expertin sollte merken, dass sie mit einem Kenner vor einem Werk von Mathis Altmann stand. Der vom Oberstübchen gesteuerte innere Kunstbanause allerdings freute sich schon auf den Aufruhr, wenn die Kunsthallen-Putzfrau den Staubsauger seinem ursprünglichen Zweck zuführen würde.


«Wunderbar, superb, himmlisch», säuselte ich bei jenen Freunden, die zum Nachtessen den Protzwein für 40 Franken auftischten. Und dachte, dass das Gsöff auch nicht anders schmeckt als der Rote aus dem Languedoc für 5.95. Und da war vorgestern die junge Frau an der Kasse in der Migros. «Ich habe nur drei Sachen, darf ich vor Ihnen», flötete sie. «Aber gern, aber ja, aber bitte sehr», katzbuckelte ich. Die grauen Zellen da oben waren anderer Meinung und lieferten allerlei nicht Zitierfähiges.


Manche Menschen sollen ja Gedanken lesen können. Hoffentlich kommt nie einer vorbei.