Berner Zeitung; 2.6.2015


Begeisterungszwang

Jetzt klatschen doch bitte mal alle Leserinnen und Leser in die Hände. Ja, auch Sie dort am Tischchen im Café. Sie ganz besonders, Sie Trittbrettkonsument, Sie Aboverweigerer. Nun alle zusammen im Takt.


Aufstehen bitte, alle, und die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Was murmeln Sie da auf dem Bänkli im Park? Sie wollen nicht? Hopp, fürschi. Der Nachbar machts ja auch. Schliesslich habe ich mir für diese Zeilen Mühe gegeben, nachgedacht, umgeschrieben. Nun seien Sie gefälligst begeistert.


Da waren wir doch kürzlich in einem Konzert. Ein hübsches Konzert. Mit vielen Noten, vielen Lautsprechern und viel Bühnennebel. Aber muss ich deswegen aufstehen, klatschen, pfeifen, schreien? Ich muss nicht. Aber ich tus trotzdem. Nicht weil mir danach zumute ist, sondern weil der Mann neben mir das auch macht und weil die Frau vor mir aus dem Häuschen ist. Wie sähe das aus, wenn ich den stummen Fisch geben würde. Schlecht sähe das aus.


Ihren Höhepunkt erreichte die Jubelpflicht bei der Zugabe. Konzerte sind ja kein Sonntagsspaziergang. Irgendwann nach dem zehnten Lied sehnt man sich nach dem Ende. Und wenn es dann da ist, das Ende, ist es längst noch nicht da. Sondern die Zugabe, die erste, die zweite, die dritte. Derweil man sich nach einem Bier sehnt. Aber der Herr hinter mir pfeift. Und weil die Dame neben mir auf Standing Ovation macht, steht die ganze Reihe auf.


Nun den Holzpflock durchzugeben, bräuchte Mut. Habe ich aber nicht. Darum gibts jetzt eine Zugabe. Darum gibts jetzt kein Bier. Die Begeisterung aller, ausnahmslos aller Besucher nach der Darbietung einer Musikkapelle mit Sängerin oder Sänger ist Massenpsychose. Oder kindlich, nein, kindisch. Und ein Zeichen dafür, dass immer mehr Menschen, auch alte, nicht erwachsen werden wollen.


Das Phänomen tritt im Kulturleben nicht überall gleich stark auf. Am ausgeprägtesten ist die Jubelpflicht bei der Musik. Erträglich ist sie beim Theater, Oper ausgenommen. Und begeisterungsfrei ist die bildende Kunst. Noch nie gab es Applaus vor der Mona Lisa. Obwohl Leonardo da Vinci weit besser gemalt hat, als Luca Hänni je singen wird.