Berner Zeitung, 26.09.2012
Das Lebenswerk steht bloss herum und verstaubt
Mein Grossvater war Kunstschlosser. Seine Leidenschaft und sein Arbeitseifer galten spätmittelalterlichen Harnischen, Rüstungen. Sein Bravourstück war eine Nachbildung eines besonders wertvollen
Stücks aus dem Zürcher Landesmuseum. Die Kopie entsprach bis ins kleinste Detail dem Original. Der Kunsthandwerker vollendete das schröckliche Stück erst kurz vor seinem Tod. Das Ding erschreckte
jahrelang in meiner Wohnung die Besucher.
Grossvater ist mein Vorbild. Nein, ich will nicht spätmittelalterliche Rüstungen nachbauen. Ich würde in meinen verbleibenden Jahren nicht annähernd seine handwerklichen Fertigkeiten erlangen.
Ich bewundere ihn, weil er auch im Alter genau das machte, was er am besten konnte: Harnische. Eigentlich würde ich ganz gerne Motorräder restaurieren. Oder ein Haus bauen. Auch Porträts malen
wäre etwas Hübsches. Ich lass es sein. Weil ich es doch bloss zur Stümperei brächte.
Viele Männer und Frauen meines Alters entdecken ihre gemeinnützige Ader. Pensionierte IT-Ingenieure fahren für den Mahlzeitendienst. Ärztinnen putzen Bachläufe. Banker assistieren Lehrerinnen im
Schulzimmer. Das ist zwar schön. Aber eigentlich falsch.
Wer wirklich Gutes tun will, sollte das tun, was er wirklich gut kann, und den Verdienst jenen geben, die wiederum das Beste mit diesem Geld machen. IT-Ingenieure sollten am Compi sitzen,
Ärztinnen doktern und Banker Geld bunkern. Da käme ein hübsches Sümmchen zusammen, mit dem Profi-Chauffeure fahren, Profi-Waldarbeiter Bäche putzen und Profi-Lehrerinnen schulmeistern
könnten.
Wieso soll ich nach meiner Pensionierung unbedingt was Neues anfangen? Nein, ich will nicht Suaheli lernen, Spitzenkoch werden oder an Rüstungen herumklopfen. Sondern das tun, was mir ring von
der Hand geht.
Die Rüstung habe ich übrigens längst verkauft. Die Vollendung von Grossvaters kunsthandwerklichem Schaffen brachte bloss 2000 Franken ein. So geht das mit dem Lebenswerk: Weil es niemand will,
steht es bloss nutzlos herum und verstaubt.