journal-b.ch, 12. August 2020

 

Der nette Herr und die Spitzen des Kabaretts

BÜHNE. Seit 1998 leitet Christoph Hoigné die Cappella, den hiesigen Hauptsitz des Lach- und Singgewerbes. Der 53-Jährige ist charmant, umtriebig, erfolgreich. Und mutig: Im Oktober gastiert der streitbare Kabarettist Andreas Thiel.

Zu Beginn wirds vielfältig: Am 9. Juni öffnet die Cappella wieder, zum frühestmöglichen Zeitpunkt nach der Corona-Pause. Kabarettist Christoph Simon lädt zu einer Reihe von Abenden ein.  Um die Wiederauferstehung der Kleinkunst zu feiern präsentiert er unter dem Titel „Phönix“ Kolleginnen und Kollegen aus Kabarett, Musik und Slampoetry. 

Nach der Sommerpause starten Baldrian aus Bern und Margrit Bornet aus Zürich die 23. Spielzeit. „Züri-Bärn – Eile mit Weile“ heisst die Produktion. Baldrian, eigentlich Thomas Leuenberger, war einer der beiden Flügzüg-Komiker. Bornet wurde von der Cappella zur aktuellen Künstlerin des Jahres erkoren.

Ein paar Wochen später wirds spannend: Am 1. und 2. Oktober gastiert der umstrittene und streitbare Kabarettist Andreas Thiel mit seinem früheren Bühnenpartner Jean Claude Sassine. Angesagt ist eine  Rückschau auf 20 Jahre politisches und poetisches Kabarett. Thiel hat eine lange Cappella-Vergangenheit. Er zeigte hier die Vorpremieren vieler seiner Produktionen. Thiel bezeichnet sich als liberal. Das kam bei Tunnelblick-Linken nicht gut an. Er wurde angefeindet, verlor Auftrittsmöglichkeiten und Publikum und verzichtete auf weitere Produktionen. Die Polit-Missionare kritisierten auch die Cappella. Christoph Hoigné: „Ich bin mit Andreas Thiel befreundet, aber politisch oft nicht auf seiner Linie.“

Eigentlich ist Hoigné kein Mensch, der aneckt. Liebenswürdig ist er, das fällt einem als erstes ein. Aber das tönt dann doch allzu kuschelig. Er ist Theaterleiter. Damit steht er im Scheinwerferlicht und in der Kritik. Peter Burkart, der verstorbene Alleinherrscher der Mühle Hunziken, warf ihm 2009 vor, dass er Leute umdrehe, die Geld und Publikum nach Rubigen gebracht haben, Büne Huber oder Franz Hohler etwa.

Revierausmarchung

Der fürsorglich aufgepäppelte Künstler verlässt das Elternhaus und feiert anderswo Party. Nun hat dieser Konflikt eine neue Wendung. Hoigné wirft dem neuen Berner Casino vor, Cappella-Namen abzuwerben.  Gehen die Künstlerinnen und Künstler dorthin, wo Ruhm und Geld locken? Nicht immer. Hoigné erwähnt die deutsche Kabarettistin Sarah Hakenberg. Sie habe in der Schweiz erst nach Cappella-Auftritten ihr Publikum gefunden. Dann habe das Casino bei ihr angeklopft. „Als ihr die Situation in Bern klar wurde, hat sie sich sofort dafür entschieden, der Cappella treu zu bleiben“, so Hoigné.

„Revierausmarchung“, nennt er das, was zurzeit zwischen ihm und dem Casino abläuft. Der Cappella-Leiter  kritisiert das Casino milde - wohl auch, weil das gediegen glänzende Lokal in der Altstadt der Burgergemeinde gehört. Von den Berner Notabeln erhielt er 2018 deren Kulturpreis, satte 100'000 Franken. Hoigné verwendete das Geld um das 20-jährige Bestehen der Bühne zu feiern. Beim neunmonatigen Jubiläumsprogramm mit über 70 Vorstellungen traten unter anderem 20 Künstler auf, die vorher noch nie in der Cappella gastierten.

Corona: das Übliche

Wer Geld sagt, muss Corona beifügen. Hoigné  liefert die erwarteten Stichworte: Erdbeben, Berufsverbot, Vollbremsung von 80 auf 0. So viele Vorstellungen musste er absagen. „Wir können die Krise noch zwei, drei Monate überstehen, was dann folgt, ist ungewiss.“ Als strammer Corona-Held versucht er, die dunklen Wolken aufzuhellen: „Wir haben mit dem ganzen Team in über 1000 Arbeitsstunden den Theatersaal neu gestrichen.“

Kabarett und Chansons, so umschreibt er sein Angebot. Der Bereich Musik habe sich in den letzten Jahren gut entwickelt. Er nennt Auftritte von Stiller Haas und Steff la Cheffe. „Unterhaltung mit Haltung“, so lobt Hoigné sein Angebot. Er möchte die Leute „intellektuell und seelisch massieren“.

Die mentale Massage ergänzt er mit Betreuung. Sowohl die Kundschaft wie die Künstler seien nicht bloss Teile seines Businessplans. Leute, die bei ihm gastieren, werden liebevoll bekocht. Sie übernachten bei Bedarf unter dem Kapellendach, und das gibt dann mitunter sehr sehr lange Backstage-Gespräche. Wer will, bekommt auch als Besucher den trauten Cappella-Service zu spüren. Zum Beispiel beim Kartenverkauf. Das Haus vertreibt seine Billette nicht über ein Ticketportal, sondern selbständig und auch am Telefon. „Wir haben viele ältere Besucher, manche schätzen es, dass wir sie persönlich beraten.“

Zwei Familien

Die Cappella hat 180 Plätze. Die Tickets kosten im Schnitt 30 Franken. Eine ausverkaufte Vorstellung bringt theoretisch 5400 Franken, praktisch wohl weniger. Der Künstler, die Künstlerin oder die Gruppe erhalten 60 Prozent der Einnahmen. Im Schnitt sind zwei Drittel der Plätze belegt. Die Cappella finanziert sich zu 88 Prozent aus dem Ticketverkauf. Den Rest decken Unterstützungen der Stadt Bern, des Kantons und der Regionsgemeinden.  

Reich geworden ist Christoph Hoigné durch das Lach- und Singgeschäft nicht. Immerhin kann er seit 2017 das Theater als Haupterwerb betreuen. Zusammen mit 10 Mitarbeitenden kommen 600 Stellenprozente zusammen. Vorher arbeitete er als Fotograf und Journalist, war in der Berner Samichlous-Zunft und in einer Kaderfunktion bei den Pfadfindern.

Womit wir ins Private gerutscht sind. Hoigné ist verheiratet, hat fünf Kinder. Seine Frau Margot engagierte sich die ersten zehn Jahre beim Aufbau des Theaters, sein ältester Sohn Florian hat als Teenager in der Cappella als Lichttechniker mitgewirkt. Dessen jüngere Geschwister sieht man oft im Publikum. «Für mehr reicht die Zeit neben Schule und Leistungssport momentan nicht», bedauert Hoigné. Ist nicht so schlimm. Schliesslich hat er ja zwei Familien. Die andere ist die Cappella.