Berner Zeitung, 3. Oktober 2018


Vom Rollstuhl zum Training mit dem Clown


In der Neurorehabilitation des Inselspitals in Riggisberg kommen Infarktpatienten wieder auf die Beine. Unser Autor erlebte aber auch den Spitalkoller und die Tücken des Zweibettzimmers.

Der Hirnschlag. Ich erlitt ihn aus heiterem Himmel, ausgerechnet im Fitnessstudio. Die Beine versagten. Ich konnte nicht mehr aufstehen. Die Ambulanz fuhr mich ins nahe Inselspital. Dort ging alles sehr schnell: Infusion, Magnetresonanztomografie. Die Ärzte diagnostizierten einen Infarkt mit unbekannter Ursache und relativ geringen Konsequenzen: Schwierigkeiten beim Gehen, Gleichgewichtsstörungen, halbseitige Gesichtslähmungen, Schluck- und Sprachprobleme, Doppelblick.


Nach einer Woche brachte mich der Krankenwagen von Bern nach Riggisberg. Hier, in der stationären Neurorehabilitation des Inselspitals, überwand ich in fünf Wochen die Mobilitätseinschränkungen und einen Teil der übrigen Beeinträchtigungen. Ich war auf der Liege liegend gekommen – nun verliess ich das Spital mit dem Koffer in der Hand und hatte inzwischen erfahren, dass die Welt im Biotop der Hirngeschädigten nach eigenen Regeln funktioniert.


Die Patienten. Ja, es gibt auch die Verweigerer. Sie wollen nichts sagen und nichts hören über ihre Krankheit, über den Infarkt und über das «Schlegli». (Übrigens: Warum gibt es eigentlich keine «Beinbrüchli»?) Dafür sind viele andere nicht zu stoppen. Sie reden und reden monothematisch, in allen Einzelheiten und oft sehr selbstbezogen.


Die Einsamkeit. Stille Stunden in Riggisberg. Nachtessen ist um 17.30 Uhr. Spätestens nach der «Tagesschau» leeren sich Gänge und Aufenthaltsräume. Die Einsamkeit der Langzeitpatienten, der Fluch des individuellen Fernsehgeräts. «Vorfriedsruhe», witzelt ein Patient.


Der Clown. Das Gruppentraining ist seine Manege. Acht Patienten schwenken Arme. Beine und Rumpf. Auch der Clown. Aber er kommentiert. Häufig: «Das hatten wir gestern schon.» Vergleichend: «Ich bin doch kein Balletttänzer.» Vulgär: «Brust raus – Tittenparade.» Die Anmerkungen des Komödianten finden Nachahmer, vor allem Männer. Der lustigen Schar gelingt es, das Training zur Mitmachcomedy umzubiegen.


Die Sucht. Vorher täglich eine Flasche Wein und drei Päckli Zigaretten. Eigentlich dürften wir Mitpatienten das gar nicht wissen. Aber es sickert trotzdem durch. Jetzt kommt er vom Stoff nicht runter, raucht an dunklen Ecken vor dem Haus. Er soll Schnaps versteckt haben – und muss nun aufpassen. Rauchen wird stirnrunzelnd geduldet, Alkohol bedeutet Rausschmiss.


Die Überwachung. Im Dorf mit der Ergotherapeutin einkaufen, ist doch nett. Am Compi gamen: Security am Flughafen spielen, wirklich spannend. In der Physio auf einem Schaumstoffbalken balancieren, fast schon manegenreif. Die Reha soll auch vergnüglich sein. So charakterisiert Riggisberg sein Angebot. Was in den Unterlagen nicht steht: Die Übungen liefern die Grundlagen für die Bewertungen. Positiv formuliert: So dokumentieren die Fachleute die Fortschritte. Negativ: So fichieren sie die Patienten. Immerhin: Die Urteile bekommen auch die Betroffenen zu lesen. «Er bewältigt selbstständig alle Hausarbeiten wie Staubsaugen oder Frühstück zubereiten», steht in meinem Austrittsbericht.


Die Privaten. Den Privaten und Halbprivaten steht Hotelniveau zu – zum Beispiel eine zugeteilte Servicefachkraft und Kaffee aus der Maschine. Wir Allgemeinen trinken ihn aus dem Krüegli. Der Private schmeckt zwar besser. Aber allein deswegen lohnt sich die teure Zusatzversicherung nicht. Zumal Betreuung und Therapie gleich sind. Allerdings: Die Privilegierten haben Einzelzimmer. Wir anderen teilen Zweier- und Dreierzimmer. Da kann man schon mal die Nase rümpfen. Etwa, wenn der Bettnachbar ein allzu lockeres Verhältnis zur Körperhygiene hat und sich listig um die verordnete Dusche

drückt.