Berner Zeitung, 20. November 2017

 

Dem geschenkten Gaul ins Maul geschaut


Das tolle Handy, der Kaffee beim Warten, das zusätzliche Kleidungsstück: alles umsonst. Wirklich? Wenn uns jemand was gratis anbietet, ist nur eines gewiss: Er will was von uns.

So schön ist unsere neue Welt: So vieles ist so billig. Mehr noch: So vieles ist ganz und gar gratis. Das Internet etwa. Abermillionen von Informationen kosten nichts. Global total gratis. Aber auch lokal gibt es manches umsonst. Der Coiffeur serviert mir Gratiskaffee. Wenn ich im Kleiderladen zwei T-Shirts kaufe, bekomme ich das dritte obendrein. Begebe ich mich in dunklere Gefilde, kriege ich beim Drogendealer den ersten Schuss gratis. Und wenn ich zurück in der Legalität bin, erhalte ich das Handy für null Franken.


Spätestens hier bemerken wir die Tücken. Der Coiffeurkaffee ist noch harmlos. Hinter der Drei-für-zwei-Aktion stecken bloss Rabatte. Der nette Dealer hofft, dass ich abhängig werde. Und beim Smartphone weiss nun auch der Teenager mit den grössten Löchern in der Hose, dass er oder die Eltern ein Abzahlungsgeschäft eingehen. Der amerikanische Ökonom Milton Friedman hat bereits vor vierzig Jahren darüber ein Buch geschrieben mit dem Titel «There’s No Such Thing as a Free Lunch», freies Mittagessen, das gibt es nicht.


Wir bezahlen mit Daten


«Nichts ist gratis», bestätigt Sara Stalder, die Geschäftsleiterin der Stiftung für Konsumentenschutz. «Wir müssen immer für alles bezahlen.» An die Kasse gehen wir mit verschiedenen Währungen. Eine davon sind Daten. Wenn wir im Internet einkaufen, Formulare ausfüllen, aber auch, wenn wir gratis surfen, hinterlassen wir Spuren, die sich nutzen lassen. Bereits daran gewöhnt haben wir uns, dass beim Googeln oder beim Onlineshoppen auf uns zugeschnittene Werbung nervt.


Auf ein gefährlicheres Phänomen im Hintergrund weist Sara Stalder hin. Die Daten würden ein immer intimeres Bild von uns vermitteln. «So wissen Händler oder Banken, wie und ob wir bezahlen. Sie analysieren nicht nur unsere Bonität, sondern auch unseren Gemütszustand und können abschätzen, ob wir ein Risikokunde sind. Dies spüren wir, indem wir zu schlechteren Bedingungen einkaufen, mehr für Hotelzimmer oder für Hypotheken bezahlen oder uns diese verweigert werden.»


Bauernfängerei

 

Ihr Rat, um der Datenkrake zu entgehen: «Das Darknet, das unsere Identität verheimlicht, wäre eine Möglichkeit, ist aber nicht praktikabel.» Realistischer: Nur so viel preisgeben, wie unbedingt nötig. «Wer einen Newsletter bestellen will, soll im Formular nicht noch angeben, wie er die Freizeit verbringt.» Das sei leichter gesagt als getan, räumt Stalder ein: «Die Anbieter versuchen mit obligatorischen Einträgen möglichst viel aus uns herauszuholen.» Um an Daten zu gelangen, benützen Anbieter den Ausdruck «gratis» auch mal bloss als Aushängeschild. Portale wie Gratis-Schweiz und andere verlinken vor allem Wettbewerbe. Eigentliche Gratisangebote sind selten und oft nur Bauernfängerei.


Einstieg gratis, dann kostets

 

Beim Schenken denken Firmen nicht nur an Daten, sie haben auch psychologische Gründe. Claude Messner kennt sie. Der Professor an der Berner Uniabteilung Consumer Behavior, zu Deutsch Konsumentenverhalten: «Erweist mir jemand einen Gefallen oder schenkt mir etwas, habe ich das Bedürfnis, dies zu erwidern.» Im Privaten mache dies viel Sinn, so Messner, man unterstütze sich so gegenseitig. Dieses Prinzip werde aber auch zum Geldverdienen verwendet.


Sein Beispiel: «Die religiöse Bewegung Hare Krishna verteilt auf der Strasse gern Blumen oder Bücher und bittet dann um Spenden. Jenen, die das Geschenk angenommen haben, fällt es schwer, Nein zu sagen.» Den gleichen sanften Zwang könnten wir auch im Restaurant beobachten: «Wenn mit der Rechnung ein Schöggeli kommt, geben wir, oft unbewusst, mehr Trinkgeld.»
Der Drogenhändler, der seine künftigen Kunden anfixt, ist ein drastisches Beispiel für ein akzeptiertes gängiges Geschäftsmodell: Der Einstieg ist gratis, die Fortsetzung kostet. Das funktioniert etwa bei In-App-Käufen. Bei der reputierten Landestopografie kann man die einfacheren Karten unentgeltlich herunterladen, die detaillierten haben ihren Preis. Bei Computerspielen steigt man gratis ein. Wer bessere Waffen, mehr Einfluss, grössere Territorien will, muss bezahlen.


Mit dem Essen kommt der Appetit. Claude Messner bezeichnet das als Macht der Gewohnheit und erwähnt als Beispiel diese Zeitung und ihre Probeabos. «Nach ein paar Wochen haben sich die Probanden an das Zeitungslesen gewöhnt und sind nun eher bereit, ein Abo zu kaufen.» Dass er die Leser als Probanden bezeichnet, zeigt, dass er Forscher ist. Dass der von ihm erwähnte Mechanismus die Abozahlen befördert, hofft diese Zeitung. (Berner Zeitung)