seniorwebch, 20. November 2021
Vom Pöstler, vom Geld und von Lys Assia
Diese Weihnachtserzählung handelt von meinem Vater. Er war Pöstler im Zürcher Engequartier. Mit Ritualen hat die Geschichte nur insofern zu tun, als sie sich jedes Jahr wiederholt hat.
Viel mehr als heute war es in den Fünfziger- und Sechzigerjahren üblich, dass die Päckli- und Briefempfänger ihrem Pöstler ein Advents- oder Neujahrs-Präsent überreichten. Weinflaschen warteten auf ihn, nicht Magdalener, Magsch-dänn-ehner, sondern gute Tropfen. Manche drückten ihm auch Couverts in die Hand, mit Fünfernötli (die gabs damals noch), mit Zehner- und Zwanzigerscheinen.
Spendabel war ein Teil der Kunden auch, weil die Behörden die 1948 eingeführte AHV noch nicht auf ein Konto überwiesen. Die Renten wurden bis in die Sechzigerjahre von Postbeamten nach Hause gebracht. Für viele Senioren waren diese Überbringer Engel, die sie vor der Armut bewahrten.
In den Anfängen der AHV brachte der Pöstler die Rente nach Hause. Einmal im Monat war er mit Zehntausenden Franken unterwegs.
Gfreuts an den Wohnungstüren
So kam es, dass in der zweiten Dezemberhälfte an den Wohnungstüren manch Gfreuts abzuholen war. Auch und ganz besonders im Engequartier. Hier, in diesem teilweise vornehmen Zürcher Viertel war mein Vater lange Jahre Zustellbeamter. Um diesen Advents-Zustupf nicht zu verlieren, verzichtete Pöstler Steiger im Dezember auch beim schönsten Sonntagswetter aufs geliebte Skifahren. Nach einem Unfall hätte sein Stellvertreter von der Spendierfreudigkeit profitiert. Ein Beinbruch hätte nicht bloss Knochen lädiert, sondern auch das Familienbudget durcheinander gebracht.
Der vorweihnächtliche Geldsegen erfreute Vater und Mutter. Die Adventszeit ermöglichte aber auch dem Sohn sein Taschengeld aufzubessern. Damals konnten die Zustellbeamten während der strengen Adventszeit Unterstützung beanspruchen und durften als Aushilfen auch Familienmitglieder einsetzen. Die Post bezahlte einen kleinen Stundenlohn. Auch der Sekschüler Peter wollte seinem Vater zur Seite stehen. Allerdings durfte er nur jene Kunden bedienen, die Pöstler Steiger für ihn ausgewählt hatte. Ausgewählt hiess, dass er nur bei wenig ergiebigen Adressen läuten sollte.
Im Negligée. Um 12 Uhr mittags
Zur Zustelltour im Engequartier gehörte die Wohnung der 2018 verstorbenen Sängerin Lys Assia („Oh mein Papa“). Warum nicht mein Vater läutete, sondern ich den Auftrag erhielt, weiss ich nicht mehr. Galt die Künstlerin als geizig? Hatte mein Vater schon angeklopft? Wie auch immer, ich stieg mit ihrem Brief die Treppen hoch und klingelte.
Frau Assia öffnete. Sie trug ein Negligée und einen Morgenmantel. Aus Seide. Mit Spitzen. Um zwölf Uhr mittags. Der 14-jährige Peter aus kleinbürgerlichen Verhältnissen war sehr irritiert und sehr beeindruckt. Und sehr verlegen. Lys Assia war damals auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. Ich erinnere mich nicht mehr, ob die Gefeierte mir trotz der Skepsis meines Vaters Münz in die Hand drückte.
Die Erinnerung an die betörende Begegnung ist mir jedoch geblieben.
Die Erzählung lässt vermuten, dass mein Vater ein hartherziger Geldsack gewesen war. Das ist falsch. Wie seine geliebten Skis hatte er zwar Kanten, war aber ein liebevoller Mensch.