Die Autorinnen und Autoren der Artikel zitierten einen Fachmitarbeiter der Unabhängigen Beschwerdestelle für das Alter (UBA). Gemäss dieser Quelle erhielten 37 Prozent der Bewohnenden Neuroleptika.

 

Curaviva ist der Branchenverband der Dienstleister für Menschen im Alter. Geschäftsführer Markus Leser äussert sich zu den Vorwürfen.

 

 

Seniorweb: Markus Leser, bekommen die Bewohnenden von Pflegeheimen zu viele Medikamente?

Markus Leser: Nein, das kann man so nicht sagen.

 

Die Artikel behaupten dies aber.

 Die Beiträge sind in diesem Punkt undifferenziert. Die Medikamentenabgaben in den Heimen hat vor allem medizinische Gründe und hat mit dem Gesundheitszustand der Betroffenen zu tun. Zudem: Die Artikel beziehen sich auf eine unveröffentlichte und damit noch nicht überprüfbare Studie. Und schliesslich entsteht der Eindruck, dieses Projekt sei im Auftrag der Unabhängigen Beschwerdestelle für das Alter (UBA) entstanden. Das stimmt nicht. Mitautor ist ein Fachmitarbeiter der Beschwerdestelle, der diese Arbeit unabhängig von der UBA verfasst hat.

 

 Dennoch stimmt es wohl, dass die Heime sehr viele Medikamente verabreichen.

 Die meisten Patienten sind 85 bis 90 Jahre alt, wenn sie ins Heim kommen. Dies bedeutet, dass sie oft an mehreren chronischen Krankheiten leiden und bereits vorher die entsprechenden Arzneimittel bekamen. Sie treten nicht mit null Medikamenten ein, sondern in der Regel mit einer grossen Medikamentenhistorie.

 

 Der Arzt verschreibt nach Rücksprache mit der Pflege die nötigen Medikamente. Wieviel Freiraum haben die nichtärztlichen Fachkräfte, wenn es jemandem schlechter geht?

 Die Medikation eines Bewohners ist immer in einem Medikamenten- oder Therapieplan festgelegt, der auch die Spielräume beschreibt. Idealerweise wird die Medikamentenabgabe immer in einem interdisziplinären Team besprochen. Hierzu gehören vor allem die Ärzteschaft, die Pflegenden und auch die Angehörigen. Die Schlussverantwortung und die Verschreibung der Medikamente gehört immer in den Zuständigkeitsbereich der Ärzte.

 

Unser Gesundheitswesen ist teuer, aber gut. Wieso kriseln die Pflegeheime?

Die Heime leisten einen enormen Beitrag in der gesundheitlichen Versorgungskette älterer, hochbetagter Menschen. Gleichzeitig leiden sie auch unter einem hohen ökonomischem Druck, weil die vorhandenen Kosten – oft aus politischen Gründen – nicht ausreichend ausfinanziert werden.

 

Die grosszügig finanzierte Akutmedizin will, dass Kranke wieder gesund werden. Im Heim gelten andere Ziele.

Hier geht es darum, dass Menschen im Lebensalter ein hohes Mass an ganzheitlicher Lebensqualität erfahren, möglichst beschwerdefrei leben oder dass sie mittels palliativer Pflege würdig sterben können. Diese Aspekte gehen in der Kostendiskussion oft verloren.

 

Liegt es an der Politik, diese Präferenzen zu verändern, für mehr Geld und mehr Personal zu sorgen?

Letztlich ist es die Politik, welche die notwendigen gesetzlichen Grundlagen schafft. Sie hat es in der Hand, die Weichen so zu stellen, dass die Institutionen über die notwendigen Mittel zur bedarfsgerechten Pflege und Betreuung verfügen. In Anbetracht der demografischen Entwicklung sind die hochbetagten Menschen im Gesundheitswesen prioritär zu berücksichtigen.

 

Zuwenig Mittel für die Betreuung. Bedeutet das, dass die Heime mit Medikamenten diesen Mangel ausgleichen?

Diese Schlussfolgerung ist falsch. Medikamente können nicht einfach beliebig eingesetzt werden, sondern unterliegen – wie oben erwähnt – der ärztlichen Verschreibung und werden durch verschiedene Kontrollverfahren wie den medizinischen Qualitätsindikatoren überwacht. Dennoch braucht es eine umfassende Finanzierung von Betreuung und Pflege. Den Fokus rein auf die Pflege gemäss dem Krankenversicherungsgesetz zu setzen, reicht nicht.

 

Bieten teure Heime bessere Betreuung?

Nein, das ist keine Frage der Heimpreise. Es ist ein Zusammenspiel von formeller und informeller Hilfe und Unterstützung. In den meisten Fällen unterstützen Freiwillige und natürlich auch Angehörige. Eine gute Betreuung älterer Menschen hängt nicht alleine vom Geld ab, sondern von der Vielfalt der Menschen, die sich um sie kümmern.

 

Können Bewohnerinnen, Bewohner oder deren Angehörige zusätzliche Betreuung kaufen?

Gewisse Dienstleistungen und Angebote werden im Heim angeboten, auch im Rahmen von Aktivierungsangeboten. Zusätzliche Leistungen können – wenn nötig – auch von aussen bezogen werden, zum Beispiel die Podologie oder die Physiotherapie.

 

Der Schweizerische Seniorenrat (SSR) verlangt regelmässige Kontrollen durch den Kantonsapotheker. Weiter soll jedes Heim einen zuständigen Apotheker haben. Sind das zweckmässige Forderungen?

Nein. Kontrollen gibt es genug. Das erfordert für die Betroffenen schon jetzt enorm viel Aufwand. Ausserdem arbeitet jedes Heim bereits mit einer Aerztin, einem Arzt zusammen. Grosse Institutionen haben eigene Apotheken, andere sind mit externen Apotheken verbunden.

 

Die Unabhängige Beschwerdestelle für das Alter (UBA) sammelt Klagen, die oft Heime betreffen. Beurteilt Curaviva die UBA als Gegner?

Die UBA ist neutral und für uns keine Konfliktpartei. Wir arbeiten mit dieser Institution zusammen und schätzen ihr Engagement. So haben wir zum Beispiel gemeinsam den Leitfaden „Beurteilung und Therapie verhaltensbezogener und psychologischer Symptome bei Menschen mit Demenz“ erarbeitet.