seniorweb.ch, 22.Januar 2022

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Im Heim, weit weg von der Heimat

 

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Geld, Betreuung oder Krankheit treiben manche Betagte unter anderem nach Ungarn oder nach Südostasien. Wir zeigen die Vor- und Nachteile. Ein Schweizer Heimexperte nimmt Stellung.

 

 

Ein Altersheim im Ausland: Da kann man sich in Thailand einen angenehmen Lebensabend vorstellen. Oder man zügelt, weil man glaubt, dass das Geld für ein Schweizer Heim nicht ausreicht. Und schliesslich: Manche Auswanderer wollen ihr Vermögen zugunsten der Erben schonen.

 

Soweit so gut: Andererseits muss man befürchten, dass der Kontakt zur Heimat abreisst und die Einsamkeit zum alleinigen Begleiter wird. Institutionen in denen mehrheitlich Deutschsprachige leben, gibt es Osteuropa, in Ungarn, Polen und Tschechien. Oder in Thailand, wo vor allem Demenzkranke betreut werden. Vor ein paar Jahren waren die Spätauswanderer ein mediales Ereignis. Seither ist es still geworden. Seniorweb zeigt die aktuelle Situation.

 

 

Bloss ein Drittel der Schweizer Kosten

 

 

Ein Heimaufenthalt in der Schweiz kostet ohne Pflege rund 8400 Franken pro Person im Monat. Weil ein Vergleich sehr komplex ist, sind nur Schätzwerte möglich. Sowohl in Osteuropa wie in Thailand betragen die Kosten zwischen einem Drittel und der Hälfte der Schweizer Werte.

 

Von der Pandemie waren und sind die Heime im In- und Ausland gleichermassen betroffen: von wechselnden Einschränkungen und Lockerungen. Die Institutionen im Ausland mussten ausserdem mit den sich ändernden Reisevorschriften klarkommen. Generell gilt: Gutgeführte Heime entsprechen unserem hiesigen Standard.

 

 

Osteuropa: Deutschsprachiges Personal ist wichtig

 

 

Bei den Heimen in Osteuropa ist Artur Frank eine wichtige Person. Er vermittelt Rentner aus dem deutschsprachigen Raum an Alters- und Pflegeheime in Ungarn, Tschechien und Polen. Frank ist nicht unabhängig, sondern mit einigen Institutionen geschäftlich verbunden. Trotzdem ist seine Beurteilung wertvoll. Er warnt vor Einrichtungen, die zwar in der Schweiz werben, aber nur wenige deutschsprachige Bewohner haben. „Für Schweizer Senioren ist es dort schwierig, Anschluss zu finden. Das Personal spricht kaum Deutsch, die Küche bietet keine vertrauten Gerichte.“

 

 

Ungarn. Seniorendomizil Életfa beim Plattensee. Vor dem Zügeln sollte man die Institutionen vor Ort kennenlernen.

 

 

Frank arbeitet seit einigen Jahren in einem Markt mit einer wachsenden Zielgruppe: betagte oder pflegebedürftige Senioren. Allerdings musste er die Spreu vom Weizen trennen. In Osteuropa traf er auf Heime, in denen die Zeit stehengeblieben war: Fünfbettzimmer, verstaubtes Mobiliar. Unterdessen ist er an Renovationen oder an der Planung neuer Häuser beteiligt. Die Institutionen, mit denen er zusammenarbeitet, erfüllten Schweizer Standards, versichert er.

 

 

Blicken wir neuntausend Kilometer weiter nach Osten, nach Thailand. Es tönt idyllisch: mildes tropisches Klima, aufmerksames Personal. In Baan Kamlangchay, einem Areal in der Nähe der Stadt Chiang Mai, leben rund zwölf Bewohnerinnen und Bewohner, vorwiegend Demenzkranke, meist aus der Schweiz.

 

 

Thailand: vor allem für Demenzkranke

 

 

Fast zu schön, um wahr zu sein? Der skeptische Journalist hat nachgeforscht. Und nichts gefunden. Die von Martin Woodtli geleitete Anlage gilt als Vorzeigeprojekt. Der aus Münsingen stammende Sozialarbeiter hat vor 20 Jahren für seine demente Mutter in Thailand eine passende Bleibe gefunden. Diese Erfahrung bewog ihn, auch anderen Betagten hier einen angenehmen Lebensabend zu ermöglichen.

 

Thailand. Im Heim Baan Kamlangchay leben fast ausschliesslich Demenzkranke, vor allem aus der Schweiz. Aus Datenschutzgründen haben wir das Gesicht der Patientin anonymisiert. Bilder zvg

 

 

Woodtli verspricht nicht nur Sonne und Palmen. Er und seine Mitarbeitenden praktizieren ein Betreuungsmodell, das er als familiär und integrativ bezeichnet, ohne Gitterbetten, Zäune und verschlossene Türen. „Die Menschen sollen so leben, als wären sie noch zuhause“, erklärt er. Leben wie daheim, weit weg von daheim? „Viele Demenzkranke verpflanzen ihre vorherige Heimat in die neue Umgebung“, so Woodtli. Oft seien sie der Meinung, dass sie hier in der Schweiz leben.

 

 

Grosse Institutionen entdecken den Markt

 

 

Auch andere Heimbetreiber haben Thailand entdeckt. Seit einigen Jahren betreibt zum Beispiel das Unternehmen Vivo Bene, ebenfalls in der Nähe von Chiang May, eine Anlage mit sechs Pavillons mit je zwölf Zimmern. Einheimisches und Schweizer Personal betreuen Demenzkranke und deren Angehörige .

 

 

Martin Woodtli kritisiert diese und andere grosse Anlagen. Er erkennt in solchen Institutionen ein europäisches Konzept auf thailändischem Boden und bezweifelt, ob dies umsetzbar sei. „Wie reagiert die Bevölkerung, wenn eine eingezäunte Fläche von 36’000 Quadratmetern von westlichen Demenzkranken besetzt wird,“ fragt er sich. Er sieht in diesen Pflegeeinrichtungen keine neuen Perspektiven. „Ausser dass sie zu günstigeren Preisen luxuriöser eingerichtet sind“, so Woodtli.

 

 

Vivo Bene reagiert auf Woodtlis Kritik mit dem Argument, dass hier nicht nur demente Einzelpersonen betreut würden, sondern dass auch Paare ein gemeinsames Leben weiterführen könnten. Vivo Bene dürfe man sich nicht als hermetisch abgeriegelte Einrichtung vorstellen. „Das Restaurant Rössli und die hauseigene Bäckerei geniessen in der Umgebung einen ausgezeichneten Ruf.“ Ausserdem beschäftige Vivo Bene viele Leute aus dem Dorf und schaffe so Arbeitsplätze.

 

 


 

 

«Die Institution vorher kennenlernen»

 

 

 

Wie beurteilt der Schweizer Heimverband Curaviva die Auslandangebote. Markus Leser leitet dort den Fachbereich Menschen im Alter.

 

 

Seniorweb: Markus Leser, fürchten die Schweizer Heime die ausländische Konkurrenz?

 

Markus Leser: Nein. Die Heime im Ausland sind zwar tatsächlich billiger. Aber sie bleiben Nischenprodukte für wenige.

 

 

Manche Senioren argumentieren, dass sie sich kein Schweizer Heim leisten können.
Oft ist dies nur ein vorgeschobener Grund. Richtiger wäre: Sie wollen ihren Erben möglichst viel hinterlassen. Um die Kosten zu decken wird bei einem Heimaufenthalt in der Schweiz ein Teil des Vermögens herangezogen,.

 

 

Müssen Heimbewohner mit schmalem Budget damit rechnen, dass sie der Schweizer Sozialhilfe zur Last fallen?

 

Nein. Wenn Einkommen, die Krankenkasse und das Vermögen nicht ausreichen, übernehmen die Ergänzungsleistungen (EL) den Fehlbetrag. Die EL sind keine Sozialhilfe, sondern ein gesetzlicher Anspruch.

 

 

Können Senioren beruhigt ins Ausland auswandern und die grosszügigen Schweizer Sozialleistungen mitnehmen?

 

Ich empfehle eine Beratung bei einem Experten für Sozialversicherungsrecht. Denn die finanziellen Möglichkeiten hängen einerseits von den zwischenstaatlich abgeschlossenen Verträgen und andererseits von der persönlichen Situation ab.

 

 

In der Schweiz leben fast 150’000 Demenzkranke. Dazu kommen jährlich mehr als 31’000 Neuerkrankungen. Profitiert unser Land, wenn solche Patienten im Ausland versorgt werden

 

Nein. Diese Menschen in grosser Zahl ins Ausland auszulagern, ist weder gesundheitspolitisch noch menschlich besonders würdevoll