Frau S. sitzt am Fenster, als der Besuch kommt. Draussen fährt die Bahn vorbei. Man hört sie nur gedämpft. Es ist still im Pflegeheim. Auf dem Nachttischchen mit den zwei Schubladen steht ein Krug mit Tee. Am Schrank hängen die Zeichnungen ihrer Enkel und Postkarten mit Feriengrüssen. Aus Adelboden. Im Zimmer ist es zu warm, es riecht nach Urin, leicht, aber unangenehm.

 

Der Besucher fährt mit Frau S. im Rollstuhl in die Cafeteria. Dort trinken sie Kaffee. Der Besucher kauft an der Selbstbedienungstheke zwei Vermicelles. Weil die weich sind, kann sie das essen. Sie sitzen sich gegenüber und schweigen. Sie hat nichts zu erzählen. Im Heim geschieht schon was. Manchmal ein Handörgeler oder ein Zauberer. Immer Fernsehen. Aber sie mag nicht dabei sein. Sie sei zu müde.

 

Von früher will sie nicht erzählen. Weil sie manches durcheinanderbringt. Und weil sie nicht mehr weiss, was sie schon gesagt hat. Der Besucher schweigt, weil er nicht weiss, was sie noch versteht. Im Sommer schiebt er den Rollstuhl statt in die Cafeteria in den Garten. Das hat sie gern. Er auch. Denn da hat er was zu tun.

 

Manchmal sitzt Frau S. in der Eingangshalle. Zusammen mit den anderen Bewohnern schaut sie durch die grossen Fenster. Es sieht aus, als würden die alten Männer und Frauen jemanden erwarten. Aber es kommt niemand. Am Nachmittag blicken sie den Kindern nach, die von der Schule nach Hause gehen. Gelegentlich geht die Heimleiterin durch die Halle. Sie ist freundlich und grüsst mit Namen.

 

Das Heim ist eine Seniorenresidenz und hat einen guten Ruf. Zu Recht. Alles ist sauber. Das Personal ist geduldig und meist fröhlich. Auf der Website steht, dass die Pensionäre ihre Würde behalten sollen. Stimmt. Niemand nimmt sie ihnen weg. Aber sie ist ihnen abhandengekommen.

 

Frau S. hat früher viel gelesen. Jetzt kann sie nicht mehr. Die Augen. Sie hat sich für Politik interessiert. Als der Besucher sie auf die kommenden Abstimmungen hinweist, sagt sie nur „ach“. Dann schweigt sie. Sie hebt die Hand. „Bring nächstes Mal einen Kalender mit Büsibildern mit.“

Frau S. war meine Mutter. Sie starb nach einem halben Jahr im Pflegeheim. Wenn ich zurückdenke, fühle ich mich mies. Ich habe Angst.

 

Der Autor, seine Mutter. Späte Fünfzigerjahre.