Tamedia, 5. August 2020

Als Behinderte unterwegs: «Ich sitze im Rollstuhl, aber blöd bin ich nicht»


Dorothea Walther aus Bern ist seit einigen Jahren gehbehindert. Sie erzählt, wie ihr Leute im Alltag begegnen und welches die grössten Hindernisse für sie sind.

Himmel, ja, ich sitze im Rollstuhl, aber blöd bin ich deswegen nicht. Menschen im Rollstuhl erleben das öfter: Weil unten, bei den Beinen, nichts mehr geht, glauben viele, dass auch oben, im Kopf, nicht mehr alles funktioniert. Altgediente Rolli-Benutzer sind das gewohnt. Für mich, Dorothea Walther (74), Rollstuhlfahrerin seit einigen Jahren, ist es neu. Und stossend.

Seit Corona in unser Leben getreten ist, muss ich zusätzlich unter einem neuen Phänomen leiden: Nicht nur alt, sondern auch im Rollstuhl. Achtung, Hochrisiko! Achtung, Distanz! Das trägt mir mal böse, mal mitleidige Blicke ein.

Auf den Rollstuhl angewiesen bin ich wegen einer Folgeerkrankung der Kinderlähmung. Die «Poliomyelitis», wie es in der Fachsprache heisst, war bis in die 1960er-Jahre in der Schweiz eine gefürchtete Krankheit. In vielen Fällen verursacht sie Spätfolgen. Wie ich leiden die Betroffenen an zunehmendem, irreparablem Muskelschwund.

Viele, die jünger in ein solches Gefährt hineingewachsen sind, kurven herum wie Slalomspezialisten mit Akro-Ambitionen. Ich als Neuling befahre immer noch eine unbekannte Welt. Ich habe einen Elektrorollstuhl. Nicht so einen Traktor, der an einen Sitzrasenmäher erinnert, sondern ein cleveres E-Gerät, nicht viel grösser als ein normaler Handrollstuhl.

Unüberwindbarer Randstein


Als Einsteigerin musste ich viel lernen, zum Beispiel, dass ich Bodenerhöhungen nicht schräg anfahren darf, dass ich Absätze rückwärts bewältigen muss und ein Randstein eine unüberwindbare Barriere ist. Weiter: Wenns steil nach unten geht, vermutet die Automatik Gefahr und stoppt. Ich muss neu starten, und die bockige Elektronik erlaubt zwei weitere Meter. Der Stop-und-go-Modus alarmiert Passanten. Sie wollen helfen. Die Entschlossensten schieben – und scheitern. Als Folgeerkrankung der Kinderlähmung leidet Dorothea Walther an zunehmendem, irreparablem Muskelschwund.

Die vier Typen


Womit ich bei den Reaktionen bin. Typ A, ausschliesslich Männer, habe ich eben geschildert: Es ist der Entschlossene, auch bekannt als Frauenbelehrer. Er erklärt mir, wie ich fahren muss, erklärt mir die Elektronik, erklärt mir die Grundsätze der Rolli-Physik.

Typ B, meist weiblich, ist die Mitleidende. Kennzeichen: Sie hat den Ach-die-arme-Behinderte-Blick drauf. Die logische Konsequenz dieses «Huscheli»-Modus sind oftmals Rabatte: günstiger ins Kino, ins Theater, ins Museum, freier Eintritt dahin und dorthin. Auf den ersten Blick ist das reizvoll, auf den zweiten stossend. Denn nur weil meine Beine nicht mehr wollen, bin ich noch lange nicht bedürftig.

Typ C vertritt die Kategorie «wir haben gar nichts gegen Behinderte, ganz im Gegenteil». Diese Leute strahlen mich an, lächeln, auch Wildfremde grüssen aufs Allerfreundlichste. Ist ja schön, ist ja gut. Aber warum können sie mich nicht wie einen normalen Menschen behandeln?

Bleibt schliesslich noch Typ D: die Übervorsichtigen. Sie räumen im Restaurant Tische und Stühle fort, als würde hier gleich ein Kleinflugzeug landen. Sie spritzen auf dem Trottoir zur Seite, sie reissen die Kinder weg.

Vorbei an der Warteschlange


Das tröstliche Fazit: Fast, wirklich fast alle sind höflich. Selbst Junge mit Gangsta-Rap-Attitüde und Ganzkörper-Tattoo öffnen artig die Türen und vergessen, auf den Boden zu spucken.

Ja, wir Behinderte geniessen durchaus unsere Privilegien: Ich rolle vorbei an der Warteschlange, etwa beim Museum. Das leuchtet zwar nicht ganz ein. Ich sitze ja, die anderen stehen, ist aber schön. Und dann die Zugfahrt: Wenn ein Begleiter dabei ist, brauchen wir zwei nur ein Billett.

Fährt die kluge Behinderte also im Zuge? Jein. Sie fährt gut im Doppelstöcker und in den meisten Regionalkompositionen. Für die anderen Wagen braucht sie Hilfe. Diese fordert sie über das Handicap-Center der SBB an. Die Mitarbeiterinnen dieses Dienstes sind kompetent, aber oft ganz schön barsch. Möglicherweise sind es auch Behinderte. Rolli-Fahrer sind eine eigene Community. Wer nicht in einem Rollstuhl aufgewachsen ist, gehört nicht dazu und wird wohl als Möchtegern-Rolli-Pilotin belächelt.

Ein Stück vom Mitleidskuchen


Rollstuhl-Pilotin, das wäre doch ein schöner Name. Leider hat er sich nicht eingebürgert. Stattdessen machen Correctness-Facharbeitende seltsame Wortverrenkungen. Gehbehindert gilt als falsch. Richtig (aber hässlich) ist mobilitätseingeschränkt. Die Steigerung wäre mobilitätsoriginell. Behindert tönt zwar nicht gerade einladend, ist aber bei weitem nicht so hanebüchen wie IV, invalid, unwert.

Rollstuhlfahrerinnen werden zu Kindern – dann nämlich, wenn sie vor einer Verkaufstheke warten. Die Ware ist auf ihrer Augenhöhe. Ich bin wieder die Siebenjährige, die versucht, einen Blick auf die ausgestellten Herrlichkeiten zu werfen. Behinderte Menschen erleben behinderte Reaktionen. Oft versuchen Ratlose mein Übel kleinzureden. «Aha, du hast einen Unfall gehabt und bist nur vorübergehend im Rollstuhl.» Das ärgert, aber nur ein bisschen. Wenn ich könnte, würde ich hingegen jenen an die Gurgel springen, die auch etwas vom Mitleidskuchen wollen: «Weisst du, mein Knie tut mir ebenfalls weh.»

Ein schmerzendes Knie zwingt niemanden in den Rollstuhl. Anderen Mitmenschen hingegen würde man ein solches Gefährt dringend empfehlen. Der Seniorin etwa, die mit dem Rollator kaum vorwärtskommt, oder dem Senior, der sich mühsam und zittrig an einen Stock klammert. Mir schenkt dieses Gefährt Beweglichkeit und Freiheit. Ich kann am Leben teilnehmen.