Berner Zeitung; 22.9.2014


72 Jungfrauen, nein danke



Noch mehr als die Jungen sollten wir Alte an die Zukunft denken. Denn während für jene die nächsten Jahre teilweise überschaubar sind, wissen wir Senioren über das Kommende, das Jenseits, im günstigen Fall das Paradies, herzlich wenig. Eigentlich gehört das Thema zu den Kernkompetenzen der Religionen. Mit einer Ausnahme, davon weiter unten, liefern sie aber kaum Verbindliches. Umso mehr lohnt es sich, das dürftige Material zu sichten.


Gymnasial belastete Leute erinnern sich vielleicht an die griechische Mythologie. Dort gibt es als Paradies das Elysion. Und dort soll, so steht es bei Homer, ewiger Frühling herrschen. Wollen wir das? Gemäss den Wetterstatistiken regnet es in der Schweiz von Anfang März bis Ende Mai durchschnittlich an jedem dritten Tag.


Die christlichen Religionen und das Judentum liefern wenig Konkretes über die reale Ausgestaltung des Jenseits, des Paradieses. Na ja, ist wohl auch gescheiter, über das zu schweigen, was man eh nicht weiss.

 

Ganz anders der Islam. Hier locken «golddurchwirkte Ruhebetten», und trotz Alkoholverbot stehen Krüge bereit mit «Wein, der nicht betrunken macht». Am bekanntesten sind allerdings die 72 Jungfrauen, die auf Märtyrer warten. Das lässt erstens die Frage offen, mit welchen Dienstleistungen weibliche Verstorbene rechnen können.
Zweitens lässt die Damenflut vermuten, dass die Jungfrauen nicht als Belohnung, sondern als Strafe für die Selbstmorddeppen gedacht sind: 72 Zicken (zweiundsiebzig!), da bleibt man doch lieber lebendig. Überdies kann man aufs Jenseits getrost verzichten, weil auch unsere diesseitige Welt gemäss Telefonverzeichnis beeindruckend viele Stätten göttlicher Wohlgenüsse bietet.

 

243 Paradiese hat die Schweiz. Allein schon im Kanton Bern gibt es in Thun ein Hängematten- und ein Katzenliebhaber-Paradies. Herzogenbuchsee lockt mit einem Jass-Paradies, Rüfenacht mit einem Pizza-Paradies, in Bern bezeichnet sich ein Schönheitssalon als Kosmetik-Paradies.

 

Ausserhalb des Bernbiets freut man sich im Aargauischen über ein Recycling-Paradies. Im Thurgau haben die Offroadfahrzeuge, im Schaffhausischen die Pferde, im Kanton Luzern die Brillen ihr Paradies. Die Zürcher frohlocken über ein Schlaf- und ein Bio-Paradies. Und wohl nur der Himmel weiss, warum die Schweiz 28 Schuh-Paradiese hat.