Berner Zeitung,  31.12.2012


Die gestohlene Seele des Obergefreiten Nolle

Am Prenzlauer Berg, wo wir noch ein paar Tage lang wohnen, erinnert kaum mehr was an die DDR. Ein paar ungepflasterte Gehsteige haben noch den Charme des Verrottenden. Und die alte Frau, 85, in unserem Block lässt die schwierigen Zeiten aufleben. Sie und wir wohnen in einem hundertjährigen Miethaus. Eines Abends erzählt sie, wer hier gelebt hat.

 

Fritz Nolle kam als 20-jähriger Gärtner 1939 in die Grossstadt. Allerdings durfte er bloss ein paar Monate lang Pflanzen setzen. Im September fielen die Nazis in Polen ein. Im November bekam er den Stellungsbefehl. Dann war er fast fünf Jahre lang im Krieg. Weil er etwas Geld geerbt hatte, konnte er das Zimmer in Berlin behalten und hier seinen Urlaub verbringen.

 

Hier stockt unsere Erzählerin. Ob sie mit Nolle ein Verhältnis hatte, will sie nicht sagen. Jedenfalls kannte sie sein Schicksal besser, als man von einer blossen Treppenhausbekanntschaft erwarten konnte. Aus den Begegnungen der beiden lässt sich der Kriegsverlauf ablesen. Aus Paris brachte Nolle 1940 Wein mit. Bei der Heimkehr vom Balkan hatte er 1942 Sliwowitz im Gepäck. Aus Russland kam er mit einer Verletzung zurück. Unterdessen war er Obergefreiter geworden. Bloss Obergefreiter.

 

Er war wohl kein Vorzeigesoldat. Trotz schlecht verheiltem Armdurchschuss musste er wieder an die Ostfront. 1944 kam er in Gefangenschaft. Immerhin schickten ihn die Sowjets nicht nach Sibirien. 1952 kehrte er nach Berlin zurück. Die 85-jährige Frau zeigt Fotos. «Manchmal schrie er im Schlaf», erinnert sie sich. «Er schlug um sich und konnte nicht mehr schlafen.»

 

Zwei erfrorene Zehen, ein halb gelähmter Arm, eine lädierte Psyche. Eigentlich hatte Nolle Glück gehabt. 1958 verliess er die DDR. Ab 1960 wohnte er in Ludwigsburg bei Stuttgart. Damit riss die Verbindung zu unserer Erzählerin ab. Sie weiss, dass er sich mit vielen Haupt- und Nebenbeschäftigungen durchs Leben schlug. Er züchtete Rosen und Dackel, war Museumswärter, Parkaufseher und Gerüstbauer. Dabei geschah es. Bei der Renovation des Barockschlosses Ludwigsburg stürzte er 1963 in die Tiefe. «Det war keen Unfall», sagt die Frau. «Der Fritz wollte nicht mehr. Dem haben sie im Krieg die Seele gestohlen.»