Berner Zeitung, 30.4.2012

 

Adrenalin für Alle

Im Parkhaus beim Aussteigen aus dem Auto passiert es: Das Kleid der Begleiterin verheddert sich, eine Naht reisst an ziemlich, nein, an unziemlich, ungünstiger Stelle. Kann man so ins Theater, noch dazu an eine Premiere? Ja, man kann. Weil eine Garderobiere des Berner Stadttheaters den Schaden mit Faden, ein paar Stichen und viel Kompetenz behelfsmässig flickt.

Zwei Vorfälle ums Altern beschäftigen zurzeit Bern. Das Stadttheate will alle über 65-jährigen Garderobieren entlassen. Und di Münsterbauhütte möchte den 80-jährigen ehemaligen Turmwart der Kirche
nicht auf den höchsten Punkt des Baugerüsts steigen lassen. Zu gefährlich, sagt der Architekt.

Die Garderobenfrauen sollen gehen - in Rente. Die Hüterinnen der Mäntel, Mützen und Schirme sind liebenswerte Damen, aufmerksam und nett. Sie
machen nicht nur einen guten Job, sie machen noch mehr: Die selbsterlebte Geschichte mit dem textilen Missgeschick beweist es. Wenn Jüngere die Macht über die Kleiderständer übernehmen, ist zu befürchten,
dass das Publikum solche Hilfen künftig versäumen wird. Trotzdem ist es richtig, dass die Damen, die älteste ist 82, jetzt in Rente gehen. Das Stadttheater und das Berner Symphonieorchester sind seit einem Jahr vereint und haben damit neue Strukturen. Konzert Theater Bern hat
personalpolitisch bereits einige Weichen gestellt. Mit dem Beginn der nächsten Spielzeit bekommt Bern mit Stephan Märki einen neuen Theaterdirektor. Der Plüsch- und Stuckbühne am Kornhausplatz tut es gut, wenn sie bei den Garderoben vom AHV-Image wegkommt. Zumal sich diese Jobs auch für Studierende oder Alleinerziehende eignen.

Auch der Turmwart soll gehen - auf die Münsterspitze. Den Zugang zu den Kleiderbügeln verweigert das Stadttheater den Garderobieren zu Recht. Dass die Bauleitung dem Ex-Turmwart den Zugang zur Münsterspitze verwehrt, ist falsch. Natürlich gibt es Gründe, ihm den Höhentrip zu verbieten. Aber sie sind weniger wichtig, als die Argumente, die für den
luftigen Ausflug sprechen. Der Mann weiss, worauf er sich einlässt, er kennt den Bau und die Gefahren.

Jüngere klettern ungesichert steile Wände empor oder springen von Brücken. Da kann auch ein 80-jähriger Baufachmann ein Gerüst besteigen. Jeder Mensch, wie alt er auch ist, hat das Recht, selbst zu entscheiden,
wie viel Sicherheit er braucht und welche Gefahren er bestehen will. Wer alten Leuten Adrenalin verweigert, bestraft sie.