Berner Zeitung, 11.06.2012


Der alte, gebrechliche Autofahrer zittert - wir zittern mit


Er versucht, den Kofferraum des Autos zu öffnen. Endlich klappts. Er nimmt einen Papiersack heraus und will ihn zusammenfalten. Er zittert, es misslingt, und er wirft das Papier zu Boden. Gestützt auf einen Stock, trippelt er mit kleinen Schritten zur Fahrertür, öffnet sie. Er steigt ein, indem er sich oben am Griff festhält und langsam auf den Sitz sinkt. Er benötigt die Arme, um beide Beine ins Innere zu hieven. Er schliesst die Tür, startet den Motor und fährt ohne zu blinken aus der Parklücke.

 

Man sollte ihm das Billett wegnehmen, sagten die Bekannten, bei denen wir dem traurigen Schauspiel zusahen. Später vernahmen wir von ihnen die Geschichte dazu. Der alte Mann, 80-jährig, fährt jeden Tag mit dem Auto einkaufen. Er hört und sieht schlecht, er kann kaum gehen. Viele Kinder leben hier, die Schule ist gleich nebenan. Das ist der empörende Teil der Geschichte: Da fährt ein alter, gebrechlicher Mann um spielende Kinder herum durchs Quartier und gefährdet Menschen.

 

Aber er pflegt seine ebenso betagte Frau, erfuhren wir weiter. Und damit bekommt die Geschichte einen nachdenklichen Teil. Seine Gemahlin sitzt nach einem Schlaganfall zu Hause im Rollstuhl. Zwar kommt die Spitex, das ganze Programm. Aber sie ist auf ihn, ihren Mann, angewiesen. Und er auf sein Auto. Glaubt er. Fürs Einkaufen, für den Arztbesuch. Ohne Auto müsse die Frau ins Pflegeheim, sagt er.

 

Das Auto ist für die beiden die letzte Verbindung zur Welt. Natürlich würde die Haushilfe der Spitex auch einkaufen und ein Fahrdienst die Frau zum Arzt bringen. Aber der alte Lenker ist überzeugt, dass ihm nur das eigene Auto ermöglicht, am Leben teilzunehmen. Wir verliessen die Bekannten und diskutierten, ob man die Behörden einschalten soll. Später riefen unsere Freunde an: «Ja, wir haben das Strassenverkehrsamt informiert. Nein, da könne man nichts unternehmen, hiess es dort.» Immerhin erfuhren sie, dass sich Automobilisten ab 70 alle zwei Jahre von einem Arzt bestätigen lassen müssen, dass sie sicher fahren können. Der gebrechliche Fahrer müsse einen wohlgesinnten Doktor haben, meinte das Amt.

 

Der direkte Weg wäre eine Anzeige bei der Polizei, erläuterte das Strassenverkehrsamt später dieser Zeitung. Aber dann würde der Automobilist erfahren, wer ihm dies eingebrockt hat. Gute Nachbarn denunzieren nicht. Man reagiere in solchen Fällen aber dennoch, versicherte die Behörde, und ersuche zum Beispiel die Polizei, den Lenker im Auge zu behalten.

 

So endet die Geschichte mit einer Frage: Was ist wichtiger: die Sicherheit der Kinder oder die Lebensqualität, nein, Überlebensqualität der beiden alten Leute?