Berner Zeitung, 10.9.2012


 

Wir misshandeln unschuldige Früchtchen

Senioren verbindet miteinander nur, dass sie alle alt sind. Sonst nichts. Das sagt die Theorie. Die Praxis sieht anders aus. Manche unangenehmen Eigenschaften treten bei älteren Menschen häufiger auf als bei jüngeren. Leider. Eine Reise durchs Land der Senioren-Mödeli beginnt am Bahnhof.


Wir älteren Menschen sind meist zu früh, viel zu früh auf dem Perron. Nicht fünf Minuten, nein viertelstundenweise warten wir auf dem Perron. Dahinter steckt die Angst, dass der Zug ausnahmsweise früher startet als im Fahrplan aufgelistet. Oder dass der sonst stets leere Bummelzug zwischen Ramsei und Lützelflüh-Goldbach heute so überfüllt ist, dass wir uns beizeiten einen Platz sichern müssen.


Deshalb drängeln wir beim Einsteigen.
Das Recht auf einen Sitzplatz, Fenster, Fahrtrichtung, allein im Abteil, wohlerworben mit dem AHV-GA, verteidigen wir durch eine gute Startposition auf dem Perron und, wenns sein muss, durch Rempeln. Nähern wir uns dem Ziel, beginnt die nächste Runde.


Wir Senioren stehen lange, bevor der Zug hält, an der Tür. Als Erste hinaus wollen wir, weil wir wissen, dass der Zug gleich weiterfährt. Wenn wir es nicht rechtzeitig nach draussen schaffen, müssen wir unfreiwillig bis nach Genf-Flughafen oder Romanshorn-Schiffsstation fahren. Weil wir derart vorausschauend planen, passiert uns das nicht, und wir kommen zügig ins Einkaufszentrum.


Hier begrapschen wir jeden Pfirsich, betasten jeden Apfel, beriechen jeden Trübel, misshandeln jedes unschuldige Früchtchen. Nein, das Nasentröpfli haben wir vorher abgewischt. Nach diesen Studien erfüllen wir unseren pädagogischen Auftrag.


Gerne weisen wir andere Leute zurecht. Die Rückreise aus dem Senioren-Mödeli-Land bietet reichlich Gelegenheit, für Sitte und Anstand zu sorgen. Wir stellen den Velofahrer auf dem Trottoir in den Senkel. Im Zug muss die Frau mit der Tasche auf dem freien Sitz wissen, dass sich das nicht gehört. Und fürs Aussteigen rempeln wir uns frühzeitig zur Wagentür. Die Leute mit den Nuggi-Quads, genannt Kinderwagen, sollen gefälligst warten.